Tatort Karlsfelder See

 ​Tagebuch: Montag, 8. April

Warum bin ich eigentlich nicht schon viel früher drauf gekommen, dass ein Mord die einfachste und beste Lösung für all meine Probleme ist? Wie dumm war ich, es erst mit Reden zu versuchen! Wer hält sich schon an Abmachungen, wenn es um so viel Geld geht. Nein, wenn man sicher sein will, dass jemand sein Wort hält, ist es am besten, ihn gleich ganz aus der Welt zu schaffen. Ich muss sagen, ich bin schon ein wenig stolz auf mich, dass ich so schnell reagiert habe, obwohl ich das doch so gar nicht geplant hatte. Als sich die Chance ergab, habe ich zugegriffen. Was musste mir der Trottel auch den Rücken zudrehen? Er wollte etwas aus einer Schublade holen, als wäre ich gar nicht da. Als wäre ich überhaupt nicht wichtig! Da musste ich doch etwas tun, oder? Danach war ich ganz kühl und habe, denke ich, keinen Fehler gemacht, keine Spuren hinterlassen. Im Organisieren war ich schon immer gut. Dass ich einen Mantel übergezogen habe, um das Blut an meiner Kleidung zu verdecken, war doch wirklich genial! Und dann habe ich alles in einem Müllcontainer in München entsorgt. Dort wird niemand suchen. Jetzt heißt es nur noch warten, dass die Leiche entdeckt wird.

Und immerhin habe ich in der offenen Schublade ein nettes kleines Souvenir entdeckt. Ich bin sicher, das wird mir noch gute Dienste leisten.

Ja, ich bin zufrieden mit mir. Und was sagt mein Gewissen? Fühle ich Reue? Nein. Ich wüsste auch nicht, warum. Meine Tat war gerechtfertigt. Im Grunde war alles seine eigene Schuld. Nein, ich fühle mich wie immer. Ein bisschen wütend auf mich selbst vielleicht, weil ich nicht früher auf die Idee kam, meine Schwierigkeiten so einfach und endgültig zu beseitigen. Wenn ich daran denke, wie lange ich nachts wach gelegen und mir den Kopf zerbrochen habe, wie die vertrackte Situation zu lösen ist. Dabei war es doch so einfach! Und dabei heißt es doch immer, der erste Mord sei der schwerste. Wie werde ich mich da erst fühlen, wenn ich meinen zweiten begehe? Denn ich schätze, der wird sich nicht vermeiden lassen. Die alte Frau scheint sich ja leider bester Gesundheit zu erfreuen. Ich kann ja nun nicht ewig darauf warten, dass sie endlich stirbt.

 

Ostermontag, 22. April 2019

 01

„Ach, schau an, die Alte ist wieder da.“ Annamirl Hofstetter führte ihre beiden Scottish Terrier mal wieder am Karlsfelder See spazieren. Auf derselben Bank mit Blick auf den See saß wie beinahe jeden Morgen eine alte Frau, neben sich eine Thermoskanne und eine Nussschnecke oder ein Plunderstück. Was genau es war, konnte Annamirl nicht erkennen. Aber irgendetwas Süßes war es immer. „Wir machen wie immer einen großen Bogen um das Weib, verstanden?“, ermahnte sie eindringlich ihre beiden Hunde. „Vor allem du, Loki. Du weißt doch bestimmt noch, wie du bei ihr gebettelt hast und wie sie dich beinahe mit dem Fuß erwischt hat. Du hättest natürlich wirklich nicht betteln sollen, das weißt du ganz genau. Aber einen Tritt hast du dafür auch nicht verdient.“

Annamirl sah es immer noch genau vor sich. Sie waren an den See gekommen, und der schwarze Loki, der Süßes über alles liebte, war zu der alten Frau gelaufen, machte Männchen und wedelte bittend mit den Vorderbeinen. Da hatte die alte Frau ausgeholt, um nach dem Tier zu treten.

Loki war nichts passiert, und Annamirl hatte ihn schnell wieder trösten können, aber ab diesem Moment war die Alte, wie Annamirl sie nannte, obwohl sie zugegebenermaßen nur einige Jahre älter war als Annamirl selbst, bei ihr unten durch. Denn sie hatte nicht etwa verschreckt oder ängstlich mit dem Fuß auf den kleinen Hund gezielt, sondern mit einem boshaften Grinsen. Annamirl hatte deutlich das Vergnügen in ihren Augen gesehen. Nichts war besser geeignet, dass jemand Annamirl gründlich und zutiefst unsympathisch wurde.

„Die Alte ignorieren wir gepflegt“, beschied Annamirl also ihre Hunde und warf noch einen Seitenblick auf die Frau, die reglos auf ihrer Bank saß, gut eingemummelt in einen braunen Mantel und offensichtlich schlafend. „Also auf geht’s, viele Tage sind es ja nicht mehr, bis der See für euch tabu ist. Die wollen wir noch ausnützen, oder?“

Annamirl wollte einfach einen Bogen um die alte Frau machen, doch ihre Hunde folgten ihr nicht. Stattdessen schlichen die beiden zögerlich zu der Bank, auf der die Frau saß, verharrten dann zwei Schritte entfernt und begannen erst zu winseln, dann zu bellen. Neugierig geworden trat auch Annamirl näher heran. Neben der Frau stand wie immer eine Thermoskanne. Daneben lag auf einer Papiertüte ein angebissenes Plunderstück, auf dem es sich zwei Fliegen gemütlich gemacht hatten. Nichts wirklich Ungewöhnliches. Doch Annamirl wunderte sich, dass die Frau trotz des Hundegebells gar nicht aufwachte. Vorsichtig beugte sie sich über sie, wobei sie die beiden Fliegen aufscheuchte, und stupste sie an die Schulter. Doch, statt aufzuwachen, kippte die Frau zur Seite, stieß dabei die Thermoskanne um und blieb reglos auf der Bank liegen. Alarmiert beugte sich Annamirl über sie und rüttelte sie kräftig. Als auch das nichts half, suchte sie nach Lebenszeichen. Der Brustkorb schien sich nicht zu heben. Was machte man da nochmal? Einen Spiegel vor Mund und Nase halten und nachsehen, ob er beschlägt, fiel ihr ein. Gute Idee – nur hatte sie keinen Spiegel bei sich. Den Puls suchen? Zwei Finger am Hals, erinnerte sich Annamirl an etliche ihrer geliebten Krimis, in denen das so gemacht wurde. In den Büchern klang das ganz leicht, aber Annamirl bezweifelte, dass das in der Wirklichkeit auch so einfach war.