Ich war nach Laundom gekommen, um zwei Arztpraxen zu besichtigen. Mein bisheriges Betätigungsfeld war ja Pendrin – die Stadt mit dem renommiertesten Heilbad und den angesagtesten Ärzten. Aber ich hatte beschlossen, lieber nach Laundom zu wechseln, um dort zu praktizieren.
Mein guter Freund Erkül Bwaroo hatte mich eingeladen, bei ihm zu wohnen, so lange ich in Laundom beschäftigt war. Er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, mich persönlich vom Zug abzuholen.
„Mon ami Heystings!“, rief er, als er mich entdeckte und tänzelte begeistert auf mich zu. „Wie schön, Sie endlich einmal wiederzusehen. Es ist viel zu lange her!“
„Ja, da haben Sie recht“, schmunzelte ich. „Aber das wird ja jetzt vielleicht bald anders werden.“
„Mais oui, das wäre schön. Sie wollen also tatsächlich hierher umziehen? Mais pourquoi? Es ist doch sicher nicht der alte Bwaroo, der Sie zu diesem Entschluss getrieben hat. Immerhin ist Pendrin très chic. Alles, was Rang und Namen hat, kommt dorthin.“
„Ich bin es leid, die eingebildeten Wehwehchen müßiggehender Damen zu behandeln, die es aufregend finden, sich eine lebensbedrohliche Krankheit einzubilden“, erklärte ich. „Und die Art und Weise, wie nicht wenige der reichen Faulenzer einfach nur aus Langeweile mit ihrer Gesundheit Schindluder treiben, will ich mir einfach nicht mehr länger mit ansehen. Ich bin Arzt geworden, um Leiden zu lindern. Und auch wenn der Wohlstand, den mir meine Tätigkeit in Pendrin gebracht hat, durchaus angenehm ist – ich will endlich wieder richtige Kranke behandeln! Außerdem dachte ich mir, es wäre vielleicht ratsam, in eine Gegend zu ziehen, in der ich das ganze Jahr über zu tun habe. Vier Monate im Jahr ist in Pendrin der Teufel los, das stimmt. Aber danach kommen acht Monate, in denen Pendrin im Schlaf versinkt und ich meine Praxis eigentlich schließen könnte.“
„Ah non, mon ami!“, winkte mein Freund jedoch ab. „Ce n‘est pas vrai! Zumindest ist es nicht die ganze Wahrheit. Es ist wohl vor allem Mademoiselle Maja Behn, die Sie in die Hauptstadt zieht und ziehen lässt, n’est-ce pas?“
„Fräulein Behn hat gar nichts damit zu tun“, behauptete ich. In den vielen Jahren meiner Bekanntschaft mit Bwaroo hatte ich mich daran gewöhnt, dass er es liebte, französische Brocken in seine Sprache einzustreuen, obwohl das beileibe nicht seine Muttersprache war. Manchmal ging es mir aber trotzdem auf die Nerven. Ich bereute es bereits ein wenig, seine Einladung angenommen zu haben. Das lag aber vor allem daran, dass er, wie ich mir selbst im Stillen eingestehen musste, mal wieder voll ins Schwarze getroffen hatte. Ich hatte Fräulein Behn kennengelernt, als Bwaroo und ich gemeinsam in einem Entführungsfall ermittelten. Das ist gar nicht so seltsam, wie es im ersten Moment klingt, denn mein guter Freund ist Privatdetektiv, und zwar der beste, den es gibt. Zumindest seiner eigenen Meinung nach. Und auch wenn ich das etwas anmaßend finde, ist es doch eine Tatsache, dass er ziemlich brillant und entsprechend erfolgreich ist. Es durfte mich also eigentlich gar nicht wundern, dass er mich sofort durchschaut hatte.
„Nun, Fräulein Behn auf diese Weise öfter zu sehen, ist ein angenehmer Nebeneffekt“, gab ich also zu.
„Nebeneffekt, bah!“, wedelte Bwaroo meine Antwort fröhlich beiseite. „L‘amour est tout. Alles für die Liebe. Und was ist falsch daran? Einen angenehmen Nebeneffekt würde ich eher nennen, dass ich Sie dann auch öfter sehen werde.“
„Das natürlich auch.“ Ich schmunzelte. Es war einfach unmöglich, Bwaroo lange böse zu sein. Seine beinahe kindliche Freude war einfach ansteckend.
„Was haben Sie denn so getrieben, seit unserem letzten Treffen?“, wechselte ich das Thema.
„Bwaroo ist gerade von einer Reise ins Ostreich zurück. Ich habe meinen alten Bekannten im Rotgrasgebirge besucht, den Drachen Hermendrack. Er hat vor kurzem gute Freunde verloren, und ich fuhr zu ihm, um ihn ein wenig aufzumuntern.“
„Freunde, die Sie kennen?“
„Non. Es handelte sich um ein Drachenpaar, das bei einem Erdrutsch ums Leben kam. Allem Anschein nach wurden sie im Schlaf überrascht, was seltsam ist, denn Drachen haben von Natur aus einen sehr leichten Schlaf. Dieses Paar schien vom Pech verfolgt. Erst zwei Jahre zuvor hatte es den Tod seines einzigen Sohns zu beklagen, und die Drächin war danach so deprimiert, dass sie nie wieder ein Ei legte.“
„Haben Sie ermittelt?“
„Da gab es nichts zu ermitteln. Es war ein tragisches Unglück, nichts weiter.“
„Dann also keine interessanten Fälle?“
„Non, für Bwaroo gibt es im Moment überhaupt nichts zu tun. Alle Verbrecher meiden Laundom. Sie haben gelernt, dass sie gegen mich keine Chance haben.“
„Ist das nicht ein wenig übertrieben?“ Ich schmunzelte.
„Natürlich nicht!“ Bwaroo warf mir einen empörten Blick zu. „Selbst der übelste Gauner ist lernfähig. Sie haben sich alle aus Laundom zurückgezogen. Und nun sitze ich hier und langweile mich.“
„Sie sollten sich ein Hobby zulegen. Vielleicht könnten Sie einem Schachclub beitreten. Oder kaufen Sie sich ein Rätselbuch, damit die grauen Zellen fit bleiben. Sie selbst betonen doch immer wieder, wie wichtig das ist.“
„Oui, die kleinen grauen Zellen müssen gefordert werden. Aber sterile, theoretische Denkspielchen – das ist nichts für Bwaroo. Er braucht das Leben und die Wirklichkeit. Die Schicksale hinter den Untaten.“
Wir saßen inzwischen bei Würzmilch und Éclairs in Bwaroos Salon. Unser Gespräch wurde unterbrochen, als Orges eintrat. Orges ist der Diener Bwaroos, der tüchtigste und perfekteste Butler, den man sich denken kann. Er ist ein Mensch. Das betone ich deshalb, weil Bwaroo ein Elf ist. Klein, rundlich, mit einem riesigen schwarzen Schnurrbart und bemerkenswert spitzen Ohren ist er allerdings überhaupt nicht das, was man sich unter einem Elfen vorstellt. Das liegt daran, dass er ein Niederelf ist. Die überirdisch schönen Elfen, die unsereiner mit dem Begriff Elf verbindet, sind in der Regel Hochelfen, der Adel unter den Elfen. Niederelfen sind eher die Arbeiterschicht – auch Bwaroo stammt aus einfachen Verhältnissen, die er jedoch längst hinter sich gelassen, aber nie verleugnet hat.
Orges kam also herein. Auf einem silbernen Tablett trug er einen Brief vor sich her. Daneben lag ein silberner Brieföffner, dessen ziselierter Griff mit Saphiren verziert war.
„Dies wurde eben für Sie abgegeben, Monsieur Bwaroo“, erläuterte er in so neutralem Tonfall, als würde er uns zum Essen bitten.
Dabei war der Brief durchaus nicht irgendeiner. Ein großer cremefarbener Umschlag mit Goldrand und dem königlichen Siegel konnte nur eines bedeuten: Königin Rosamunde, die Herrscherin über die menschliche Bevölkerung der Westländer, beehrte meinen Freund mit einer Nachricht.
„Eine Antwort wird nicht erwartet“, fügte Orges noch hinzu und zog sich dann wieder zurück.
„Na, dann wollen wir doch gleich einmal nachsehen, was Ihre Majestät von mir will.“ Bwaroo lachte, als er die Neugier auf meinem Gesicht bemerkte.
Schwungvoll schlitzte er den Umschlag auf und zog eine Karte heraus.
„La Reine bittet uns zum Tee“, stellte er dann fest.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich auch eingeladen bin“, wandte ich ein, obwohl mich, ich gestehe es, die Aussicht, mit der Königin Tee zu trinken, in freudige Erregung versetzte.
„Unsinn, mon ami“, widersprach Bwaroo vergnügt. „Wenn Königin Rosamunde mich zum Tee bittet, tut sie das, weil sie meine Dienste als Privatdetektiv benötigt. Und Sie, cher Heystings, sind nicht nur mein geschätzter Freund, sondern auch mein Assistent, n’est-ce pas? Also sind Sie auch eingeladen.“
„Wenn Sie es so sehen“, freute ich mich. „Natürlich stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung, wenn es etwas zu ermitteln gibt.“
„Bon. Dann wäre das geklärt. Wir können der Königin einen Besuch abstatten und danach die erste der Arztpraxen inspizieren, die Sie besichtigen wollen.“
„Sie wollen mich dabei begleiten?“, staunte ich. „Das hatte ich gar nicht erwartet.“
„Bien sûr, mon ami. Bwaroo wird sich alles ganz genau ansehen. Wenn etwas faul ist an diesen Praxen, wird er es zweifellos sofort bemerken.“
Ich schmunzelte. Natürlich schätzte er sich selbst so ein. Aber vier Augen sehen immerhin mehr als zwei. Es war mir also durchaus recht, dass er mich begleiten wollte.
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