Wo ist Erkül Bwaroo?
Die Kursaison stand bevor, und Pendrin lag daher noch in tiefem Schlaf. Pendrin, das ist eine eher kleine Stadt im Ostreich, in der es das ganze Jahr recht ruhig zugeht. Abgesehen von der Kursaison. Das sind jedes Jahr einige Wochen im Frühling, wenn die Reichen und Schönen – und solche, die dafür gehalten werden wollen – die zahlreichen Hotels der Stadt heimsuchen, um das berühmte Heilwasser in möglichst kleinen Schlucken zu trinken. Wichtiger als das scheint jedoch jedes Jahr aufs Neue zu sein, durch die Straßen zu flanieren, um gesehen zu werden. Abends besucht man dann einen der zahlreichen Bälle und feiert oft bis in den frühen Morgen. Den Kater bekämpft man dann wieder mit dem Wasser undsoweiter.
Ich habe während dieser Wochen stets viel in meiner Arztpraxis zu tun. Doch jetzt war es bemerkenswert ruhig. Ich fand, dass ich mir ruhig einen kleinen Urlaub vor dem großen Ansturm gönnen konnte. Da kam mir eine Winddepesche mit der Einladung eines Freundes, doch ein paar Tage bei ihm zu verbringen, gerade recht.
Winddepeschen sind eine feine Sache. Man fängt dazu auf magische Art einen Windhauch ein, der dann einen Brief durch die Luft transportiert. Das ist wesentlich schneller als jeder Botendienst und kann inzwischen auch von Nichtzauberern genutzt werden, sofern die es sich leisten können. Ich erhielt den Brief noch am selben Tag, an dem er abgeschickt worden war, und hatte so genügend Zeit, mich mit meiner Assistentin abzusprechen und eine Vertretung für Notfälle zu organisieren.
Mein Freund residiert in Laundom, der Hauptstadt der Westländer. Das allein versprach bereits eine Menge Möglichkeiten an Zerstreuung und Abwechslung, denn Laundom hat Theater, Musikhallen und sogar ein Lichtspielhaus zu bieten. Ganz zu schweigen von den zahlreichen großen und kleinen Lokalen und Restaurants, die es gibt. Dort kann man neben einer deftigen Mahlzeit für Zwerge oder einer ausgefallenen Fruchtkreation für Fabelwesen nicht nur die regionale Küche, sondern auch Spezialitäten aus allen vier Ländern probieren. In Laundom kommt alles zusammen, alle Nationalitäten und alle Völker. Menschen und Feyen, also Zwerge, Elfen, Feen und alle anderen, leben zwar im Großen und Ganzen in eigenen Vierteln, aber nichtsdestotrotz einträchtig nebeneinander. In dieser Stadt wird es einem nie langweilig.
Aber mehr noch war es mein Freund selbst, der mir eine interessante Zeit verhieß. Denn er ist von Beruf Privatdetektiv, und mit ihm zusammen habe ich schon so manchen spannenden Fall gelöst. Obwohl er selbst ein Elf ist, suchen auch Menschen und Feyen aller Art bei ihm Rat. Sie alle wenden sich mit den seltsamsten Anliegen an ihn und werden selten enttäuscht. Eigentlich habe ich bisher noch nie erlebt, dass er bei seinen Ermittlungen einmal scheiterte, und er selbst ist der Erste, der behauptet, dass er der größte Privatdetektiv aller Zeiten sei.
Als ich in Laundom ankam, schüttete es wie aus Kübeln. Obwohl der Winter eigentlich schon vorüber war, war es noch empfindlich kühl. Als ich aus dem beheizten Abteil meines Zuges ausstieg, schlug ich den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen. Langsam stieg ich die beiden Stufen zum Bahnsteig hinab und wartete, bis auch mein Gepäck ausgeladen war. Dabei sah ich mich suchend um.
Ich musste nicht lange warten. Erkül Bwaroo, das ist der Name meines Freundes, eilte mir bereits entgegen. Wie immer war er wie aus dem Ei gepellt in einem eleganten maßgeschneiderten Anzug und Mantel und blankpolierten Lackschuhen. Den stattlichen Schnurrbart, der sein ganzer Stolz ist, trug er zu zwei Spitzen gezwirbelt, mit denen man jemanden hätte erstechen können. Eigentlich wirkte er ein wenig lächerlich dabei, denn er ist klein und rundlich, mit einem Kopf, der sehr an ein Ei erinnert. Dass er zu den Elfen gehört, merkt man eigentlich nur an seinen überaus spitzen Ohren.
„Mon ami Heystings! Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen!“, begrüßte er mich enthusiastisch. Ach ja, seine Unart, alles mit französischen Brocken zu würzen, hatte er also auch immer noch behalten. Nichtsdestotrotz schüttelte ich ihm hocherfreut die Hand. Bei all seinen Allüren ist Bwaroo nämlich ein großartiger Bursche und wirklich liebenswert.
Jetzt geleitete er mich zu einer Kutsche, die bereits auf uns wartete.
„Wie lange ist es her, mon cher? Fast ein Jahr! Letztes Jahr im Frühling! Unsere Reise im Onyx-Express, n'est-ce pas?“
„Genau, Bwaroo“, lachte ich, denn er tänzelte vor Begeisterung praktisch auf den Zehenspitzen herum. „Ich hoffe ja, dieses Mal wird es weniger aufregend.“
Wir hatten damals einen verzwickten Mordfall aufzuklären, Bwaroo und ich. Es war spannend, aber die Reise in vollen Zügen genießen konnten wir dabei natürlich nicht.
„Ah, mon ami, im Moment ist es ruhig, sehr, sehr ruhig“, Bwaroo breitete die Arme aus und sein Schnurrbart schien einen Moment traurig nach unten zu hängen. „Erkül Bwaroo hat alle Verbrecher in Angst und Schrecken versetzt. Alle benehmen sich nun wie Musterknaben, und die kleinen grauen Zellen haben nichts zu tun!“
„Na, so schlimm wird es schon nicht sein“, versuchte ich ihn amüsiert zu beruhigen. Mein lieber Freund Bwaroo neigt einfach dazu, sich selbst zu überschätzen. Dass allein seine Existenz irgendeinen Spitzbuben dazu bringen soll, lieber kein Verbrechen mehr zu begehen, ist wirklich absurd. Es schien ihm aber ganz ernst damit, also sagte ich nichts weiter dazu. „Dann machen wir es uns eben zu Hause gemütlich“, schlug ich stattdessen vor. „Mit Orges‘ unvergleichlicher Würzmilch!“
Orges ist Bwaroos menschlicher Diener, ein absolutes Original, der Inbegriff eines Dieners schlechthin. Er versteht es, heiße Milch mit ein paar Kräutern so zu würzen, dass eine Delikatesse daraus wird. Bei dem schlechten Wetter und der Kälte, die mir allmählich unter den Kragen kroch, schien mir die Aussicht auf so einen behaglichen Abend geradezu göttlich.
„Oui, das wird uns guttun“, stimmte Bwaroo zu. „Aber wir werden später noch Besuch bekommen. Eine junge Dame ...“ Er schmunzelte, während er mir zuzwinkerte.
„Also doch ein neuer Fall?“
„Non, hier geht es um ein Interview.“
„Will die Zeiten einen Artikel über Sie bringen?“
Die Zeiten ist die renommierteste Tageszeitung der Westländer. Natürlich ging ich davon aus, dass alles andere unter Bwaroos Niveau wäre. Doch er schüttelte den Kopf.
„Mademoiselle kommt von der Elfenfreundin“, erklärte er.
„Wirklich?“ Ich staunte. „Ist das nicht ein bisschen unter Ihrem Niveau?“
Die Elfenfreundin war eine Frauenzeitschrift speziell für weibliche Elfen. Sie warb damit, die Themen Mode, Schönheit, Psychologie & Partnerschaft, Gesundheit & Ernährung, Job, Lebensstil, Reisen, Wohnen, Kochen und Kultur für Frauen zu behandeln. Auch in meinem Wartezimmer lag die eine oder andere Ausgabe herum. Soweit ich das beurteilen konnte, bedeutete das im Klartext, dass sich in jeder Ausgabe ein paar Ratschläge fanden, was man anziehen und wie man sich herrichten sollte, das eine oder andere schokoladenlastige Rezept, gefolgt von einer neuen Diät, ein Artikel, wie eine Frau für einen Mann besonders attraktiv wird, und einer, wie eine Frau ohne Mann glücklich werden kann. Dazu kam dann noch ein sogenannter Psychotest, in dem man Antworten zu Fragen ankreuzen musste, die im normalen Leben so gar nicht vorkamen, und schon bekam man als Testergebnis, dass man einen ganz wundervollen Charakter hat. Fertig. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, an welcher Stelle Erkül Bwaroo da hineinpassen sollte.
„Mais pourquoi?“ Bwaroo sah mich geradezu entrüstet an. „Dieses Magazin ist sehr erfolgreich, und wird von vielen gelesen.“
„Aber Sie können das doch unmöglich ernst nehmen!“
„Es geht ja gar nicht darum, es ernst zu nehmen.“ Bwaroo putzte ein unsichtbares Stäubchen von seinem Ärmel. „Es geht darum, einen Dienst zu leisten. Privatdetektiv zu sein, bedeutet, ein Dienstleister zu sein, denn man sucht im Dienst seines Auftraggebers nach der Wahrheit bei einem Verbrechen. Und bei einem Interview sagt Erkül Bwaroo dann eben die Wahrheit über Erkül Bwaroo. Voilá!“
Und so nebenbei konnte man dann auch ein wenig im Mittelpunkt stehen, ging es mir durch den Kopf. Wenn es zur Zeit tatsächlich so ruhig war, wie Bwaroo behauptete, musste es ihn vor allem treffen, dass er nicht vor aller Welt mit seiner Brillanz glänzen konnte. Theoretische Denkspiele und philosophische Überlegungen nur für sich allein waren nichts für meinen Freund. Seine Lösungen mussten bekannt werden und Applaus einheimsen. So gesehen war es nur zu verständlich, dass er sogar für eine Frauenzeitschrift ein Interview gab.