Erkül Bwaroo stand an der Reling und blickte gequält in die Gischt. Obwohl die Sonne schien, hatte er drei Seidenschals um den Hals geschlungen und trug außerdem noch einen Mantel. Ja, gegen die Gefahr eines Schnupfens hatte er alles unternommen, aber was konnte man schon gegen die Seekrankheit tun? Der Elf fühlte sich überhaupt nicht wohl. Da half es auch nicht, einfach nicht daran zu denken, wie ihm sein Diener Orges geraten hatte. Erkül Bwaroo wusste, dass er seekrank wurde, sobald er auch nur einen Fuß auf ein Schiff setzte. Und genau so geschah es auch.
„Sieh mal“, hörte er da eine hohe, fast schon schneidende Frauenstimme ein Stück neben sich, „dieses helle Grün ist genau die Farbe, die mein neues Abendkleid haben soll!“
„Welches helle Grün?“ fragte jemand neben ihr, der offenbar ihr Mann war.
„Na, wie das Gesicht dieses Elfen da! Das ist genau die Farbe.“
Unwillig wandte Bwaroo den Kopf in Richtung der Stimme und gewahrte eine pummelige Frau mittleren Alters, die mit dem Finger auf ihn wies. Ihr Gatte neben ihr fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Ob es daran lag, dass seine Frau ein neues Kleid haben wollte oder weil ihm ihre Unhöflichkeit peinlich war, ließ sich unmöglich sagen.
„Ja, Liebling“, presste er schließlich hervor und wandte sich in die andere Richtung, um zu gehen. Aber seine Frau war noch nicht fertig: „Komischer kleiner Kerl“, sie sprach nun nur noch halblaut, doch Bwaroo hatte ausgezeichnete Ohren und verstand jedes Wort. „Guck mal, für einen Elfen ist er aber ziemlich klein. Das ist doch ein Elf oder? Mit einem Kopf wie ein Ei. Vielleicht ist er ja auch ein Mischling. Und er muss kugelrund sein. Obwohl man das ja nicht genau sagen kann, so eingemummelt wie er ist. Bei diesem herrlichen Wetter! Meinst du, der Schnurrbart ist echt?“
„Bien sûr, Madame“, wandte Erkül Bwaroo sich da direkt an sie. „Selbstverständlich ist mein Schnurrbart echt. Wie alles andere übrigens auch, einschließlich meiner Anfälligkeit für Zugluft.“
Wenn er die Absicht gehabt hatte, die Dame in Verlegenheit zu bringen, hatte er keinen Erfolg. Sie lächelte und nickte. Nur widerstrebend ließ sie sich von ihrem Mann wegführen, der zunehmend beschämt schon eine geraume Weile an ihrem Ärmel zupfte.
Der seekranke Elf nahm derweil genau in der Mitte der Bank Platz, die sich vor der Brücke des Postschiffs befand. Dort, so würde er jedem erklärt haben, der ihn danach gefragt hätte, schlingerte das Boot am wenigsten. Wobei man sagen muss, dass das Boot ohnehin nicht schlingerte, denn die See war spiegelglatt und völlig ruhig. Und Bwaroo benahm sich, als würden sie das Meer bei einem Sturm mit Windstärke 7 befahren. Dass ihn das vielleicht lächerlich erscheinen ließ, war ihm, das muss man bewundernd anmerken, völlig egal.
Erkül Bwaroo zupfte seine Seidenschals zurecht und dachte daran, wie er nur in die missliche Situation hatte geraten können, mit diesem Schiff auf dem Meer zu reisen.
...
„Sie sind Erkül Bwaroo, der Detektiv?“ eröffnete der Graf das Gespräch.
„A votre service“, der Elf verneigte sich. „Womit kann ich Ihnen dienen, Graf Saragessa?“
Statt einer Antwort fragte der Greif: „Sie kennen Saragessa?“
„Ich war noch nie persönlich dort, aber natürlich kenne ich die dortigen Verhältnisse“, nickte Bwaroo.
„Gut. Dann wissen Sie auch, dass die Insel einst meinem Urgroßvater gehörte. In der schlimmen Zeit, als die Fabelwesen noch nicht als freie Bürger des Landes anerkannt waren, bot er sie den Verfolgten als Zuflucht an. Jetzt ist sie ein eigenständiger Staat, dessen Bewohner ihr Staatsoberhaupt frei wählen...“
„Wobei sie seit vielen Jahren immer wieder Sie wählen.“ Der Elf schmunzelte und fragte sich, ob der Graf sich immer so umständlich ausdrückte oder nur, wenn er nervös war. Denn nervös war er mit Sicherheit. So, wie sich die Federn an seinem Hals sträubten.
„Nun ja.“ Der Greif entspannte sich ein wenig.
„Das spricht doch nur für Ihre weise Regierung“, vermutete der Detektiv.
„Es ist nicht schwer, Fabelwesen glücklich zu machen“, wehrte der Graf in wohl einstudierter Bescheidenheit ab. Er schloss einen Moment die Augen, als müsste er sich selbst dazu zwingen, zum Grund seines Besuches zu kommen.
„Wir sind ein friedliches Volk, Herr Bwaroo“, begann er schließlich. „Wir liegen mit niemandem in Streit und auch untereinander leben wir in Frieden. Doch nun wird unsere kleine Welt von unvorstellbaren Verbrechen heimgesucht.“
Saragessa ist eine weitläufige Insel im Jaspischen Meer, das seinen Namen von den intensiven Rottönen hat, in denen es wegen einer besonderen Algenart schimmert, die dort überall in Ufernähe wächst. Auf der einzigen Insel inmitten dieses Meeres leben fast ausschließlich Fabelwesen. Diese sind sehr darauf bedacht, unter sich zu bleiben. So sind sie vor übereifrigen Großwildjägern sicher. Denn auch heute noch gibt es Personen, die glauben, dass Fabelwesen einfach nur Tiere sind, die zufällig sprechen können. Da es solche Jäger sowohl unter den Menschen als auch bei den Feien gibt, brauchen beide Völker gleichermaßen eine Besuchserlaubnis, um die Insel betreten zu dürfen. Die Überwachung ist streng, die Zahl der erteilten Erlaubnisse gering – was sie umso begehrter bei Touristen macht. Das wiederum hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Wirtschaft und den Wohlstand Saragessas. Natürlich befinden sich nicht sämtliche existierenden Fabelwesen auf der Insel. Da es umgekehrt keinerlei Beschränkungen gibt, leben viele auch auf dem Festland. Erkül Bwaroo hatte zum Beispiel schon einmal einem Einhorn geholfen, das in den Wäldern hinter Laundom, der Heimatstadt des Elfen lebte, und seine Jungfrau verloren hatte. Außerdem war er gut mit einem Drachen befreundet, den er hin und wieder gerne zu einem gemütlichen Grillabend besuchte.
„Ein brutaler Mörder auf Saragessa? Erzählen Sie mir mehr“, bat der Elf nun den Greifen, der ihn völlig verblüfft anschaute.
„Woher wissen Sie?“ brachte er endlich heraus und raschelte unbehaglich mit den Flügeln.
Erkül Bwaroo zuckte die Schultern: „Sie haben in der Mehrzahl gesprochen. Und wenn es unvorstellbare Verbrechen sind, kann es sich wohl kaum um simple Diebstähle oder ähnliches handeln, ja noch nicht einmal um 'einfache' Morde. Denn dergleichen hätte die zuständige Behörde vor Ort sicher selbst aufgeklärt. Voilà, was bleibt, sind mehrere Morde, und sie müssen grausam gewesen sein.“